Mittwoch, 26. April 2023

1993

EMIN ÖNEN

Köln. Am Sonntag, 16. Mai 1993, hatte Emin Önen (10) um 15 Uhr einen Mann treffen wollen, der damals im evangelischen Pfarrhaus wohnte und mit dem Emin sich anfreunden wollte. Doch Siegfried S. war nicht da. Mehrere Zeugen haben den Jungen danach noch gesehen, zuletzt gegen 20 Uhr an der Kreisstraße 4 zwischen Buir und Manheim, einem Städtchen westlich von Köln. Dann verliert sich Emins Spur. 

Mit Hochdruck suchten Polizei, Deutsches Rotes Kreuz und Technisches Hilfswerk rund um Buir nach dem zehnjährigen Jungen und durchkämmten auch eine Kiesgrube, wo Steilhänge und Schlammgruben Gefahren für Kinder bilden. Die Polizei nahm Siegfried S. genau unter die Lupe. Doch der Mann hatte ein hieb- und stichfestes Alibi, berichtet Jürgen Chrobok. 

Emins Foto wurde auf Milchtüten gedruckt und erschien im Musikvideo der Popgruppe Soul Asylum zu einem Lied über von daheim ausgerissene Kinder und Jugendliche. Die Eltern von Emin setzten eine Belohnung in Höhe von 25.000 Mark aus - ohne Erfolg. Bei der Familie meldete sich lediglich eine damals 32jährige, die drohte, Emin zu ermorden. 50.000 Mark sollten die Eltern in einer Telefonzelle in Kerpen-Türnich deponieren. Die Polizei setzte eine Fangschaltung ein und fasste die Frau bei der Geldübergabe. 

Die leidgeprüfte Familie freut sich zwar über jeden Suchaufruf, meidet inzwischen aber die Öffentlichkeit. Emins Vater leidet noch immer sehr, sagt Ömer Önens Schwiegertochter, denn das Schlimme ist die Ungewissheit. Wir hoffen, daß Emin irgendwo lebt und glücklich ist. 

Die Chancen, Langzeitvermisste lebend wiederzufinden, sind leider sehr gering, sagt hingegen Monika Bruhns von der Eterninitiative vermisster Kinder, die die Familien von rund 100 der bundesweit etwa 1.000 vermissten Kinder betreut. Wir sehen uns daher mehr als Begleitung für die Verwandten, denen wir Gesprächspartner sein wollen und für die wir auf das Schicksal ihrer Kinder aufmerksam machen, erläutert Bruhns. Seelische Unterstützung erhält die Familie auch von der Langzeitvermisstenstelle der Polizei. Wann immer Jahrestage ins Haus stehen, melden sich unsere Beamten bei den Angehörigen oder schauen auf einen Besuch vorbei, sagt Polizeisprecher Chrobok.

Bislang hat es keinen brauchbaren Hinweis darauf gegeben, wo Emin ist, ob er noch lebt oder ob er das Opfer eines Verbrechens geworden ist. Der Junge ist wie vom Erdboden verschluckt, sagt Jürgen Chrobok, der Sprecher der Polizei im Erftkreis. Auch Monika Bruhns von der Elterninitiative vermisste Kinder (EvK) in Kisdorf bei Hamburg, klingt resigniert: Alle Hinweise waren so schwammig, daß wir sie noch nicht mal an die Polizei weitergegeben haben.


JUTTA FUCHS

Bremen. Jutta Fuchs (29) lebte zusammen mit ihrem Lebensgefährten Wolfgang O. und dem gemeinsamen zweijährigen Sohn im Haus von O.s Eltern in Bremen-Nord. Im Sommer 1993 will sie die Beziehung beenden und ihren Sohn mitnehmen. Sie hat schon eine Wohnung gemietet, teilweise eingerichtet und den Kühlschrank mit Lebensmitteln gefüllt. Am 26. Juni 1993 soll der Umzug sein. Aber der findet nicht statt. Jutta Fuchs ist verschwunden. Am Tag danach wird auf dem Autobahnparkplatz Mittelkämpe an der A27 das Portemonnaie von Jutta Fuchs mit Geld und Scheckkarte gefunden. Dazu ihr Reisepass, ihr Personalausweis und der Kinderausweis ihres Sohnes.

Ob Jutta Fuchs Opfer eines Verbrechens geworden ist, weiß niemand. Sicher scheint: Seit dieser Zeit hat niemand, der sie kannte, sie gesehen oder was von ihr gehört. Sehr wahrscheinlich wurde sie von jemandem getötet und ihre Leiche sehr gut versteckt. Aber sicher weiß das - wie gesagt - niemand.

Jutta Fuchs' Lebensgefährte Wolfgang O. gerät schnell unter Verdacht, etwas mit ihrem Verschwinden zu tun zu haben. Er hatte ein Motiv, weil sie ihn verlassen und den gemeinsamen Sohn mitnehmen wollte. Die Polizei ertappt ihn bei seinen Angaben darüber, was er am Abend in der Nacht vor Jutta Fuchs‘ Verschwinden getan hat, bei diversen Ungereimtheiten und Unwahrheiten. Und er hatte eine Möglichkeit, ihre Leiche absolut unauffindbar zu verstecken. Die Familie O. besaß nämlich eine Motoryacht. Die lag in Bremerhaven. Bis heute sind manche Ermittler der Kripo überzeugt: Wolfgang O. ist mit Jutta Fuchs' Leiche rausgefahren auf die Nordsee und hat sie da mit irgendwas beschwert und über Bord geworfen.

Eines Tages ziehen zwei jugendliche Angler am Tietjensee nördlich von Bremen eine Plastiktüte aus dem Wasser. Und darin - neben drei Steinen, die all das unter Wasser gehalten haben - wieder Gegenstände von Jutta Fuchs: ihre Armbanduhr, ein paar Pumps mit Pfennigabsätzen, Gesichtscreme, eine Zahnbürste und weitere Dokumente, aber derart aufgeweicht, daß sie kaum zu entziffern sind. Allerspätestens da haben die Ermittler kaum noch Zweifel: Jutta Fuchs ist tot.

Die Polizei tut, was sie kann, um ihre Leiche zu finden - und zwar jahrelang. Taucher und ein spezieller Tauchroboter suchen den Tietjensee ab, mehrere Grundstücke werden quasi umgegraben, Leichenspürhunde werden eingesetzt, eine Sickergrube wird ausgespült und der Inhalt gesiebt, der Fall wird bei Aktenzeichen XY ungelöst vorgestellt. Alles vergebens.

2013 erhebt die Bremer Staatsanwaltschaft trotzdem Anklage gegen Wolfgang O. Und nach einigem Hin und Her beginnt im August 2018 der Prozess vor dem Bremer Landgericht. Mitten im Prozess gibt es nochmal einen spektakulären Ermittlungsversuch: Der Tietjensee - 150 Meter lang, 80 Meter breit und rund 2,20 Meter tief - wird ausgepumpt. Es wird keine Leiche gefunden, keine Tatwaffe und auch sonst nichts, was zur Wahrheitsfindung hätte beitragen können. Danach plädiert sogar die Staatsanwaltschaft auf Freispruch für Wolfgang O. Und der wird dann auch freigesprochen.

Wie gesagt: Ob Jutta Fuchs Opfer eines Verbrechens geworden ist, weiß bis heute niemand.


MANUEL SCHADWALD

Berlin. Der damals Zwölfjährige Manuel Schadwald verließ am 24. Juli 1993 die Wohnung seiner Eltern im Gäßnerweg in Tempelhof. Schadwald machte sich auf den Weg zum Freizeit- und Erholungszentrum (FEZ) in der Wuhlheide, auf dessen Gelände seit den 50er Jahren die Parkeisenbahn fährt. Schadwald kannte den Weg, er ist ihn oft gefahren. Wo sich seine Spur verliert, ist unklar. Nur in der Wuhlheide kam der Junge aus Tempelhof an jenem 24. Juli nicht an.

Nach Recherchen der niederländischen Tageszeitung Algemeen Dagblad ist er Mitte der 90er Jahre von mehreren Zeugen im Rotterdamer und Amsterdamer Kinderporno-Milieu gesehen worden.

Die Polizei ging nach Schadwalds Verschwinden schnell von einem Verbrechen aus. Doch jahrelang kam sie bei der Suche nach dem Jungen nicht voran. 1997 hieß es, es gäbe Hinweise, daß Schadwald von Pädophilen nach Holland verschleppt worden sei. Später hieß es, Manuel sei auf einem Gewalt-Video zu sehen. Diese Hinweise konnten jedoch nicht verifiziert werden, heißt es bei der Polizei. Zwischenzeitlich gerieten auch die Eltern des Kindes ins Visier der Beamten. Erst kürzlich vernahmen Ermittler für ungelöste Altfälle noch einmal die Mutter Manuel Schadwalds. Die Polizisten sollen dabei auch Daten von ihrem Computer sichergestellt haben. Eine heiße Spur ergab sich daraus nicht.

Dann kam unbestätigten Informationen zufolge etwas Bewegung in den Fall Schadwald: Der verhaftete Kindermörder Martin N. aus Hamburg soll Kontakte zu Berliner Pädophilen gehabt haben. N. gilt als Mörder des neunjährigen Dennis K., der im September 2001 während einer Klassenfahrt entführt und getötet worden ist. Offenbar wird geprüft, ob N. etwas mit der Verschwinden Schadwalds zu tun haben könnte.



SEIKE SÖRENSEN


Drelsdorf. Der 5. August 1993 in der Tausend-Einwohner Gemeinde Drelsdorf ist ein beschaulicher Sommertag. Die Kühe des Bauern Sörensen grasen auf der Weide, im Garten spielt Seike (11) mit ihren Geschwistern Nicole (13) und Sven (6). Später reißt sie hinterm Stall die Brennnessel raus, dann geht sie auf die Weide und reitet auf ihrem Pferd Lucie. 

Nach dem Mittagessen verabschiedet sich das Mädchen mit den blonden kurzen Haaren und den blauen Augen. Sie werde die Oma im Dorf besuchen und sei zum Abendessen wieder da. Der Bauernhof liegt abseits des Dorfes, zehn Minuten mit dem Fahrrad. Am frühen Abend ziehen Regenwolken auf, ein Gewitter kündigt sich an. 

Seike wollte nach Hause, erinnert sich die Großmutter Käthe Sörensen (66). Ich fragte sie noch: Soll ich dich nicht besser fahren? Aber sie sagte nur: Ach was. Tschüss Oma! und weg war sie. 

Es war 17.45 Uhr. Seitdem hat sie niemand mehr gesehen. Ich war in Sorge wegen des Wetters. Ich schaute aus dem Fenster und rief schließlich meine Schwiegermutter an, erinnert sich Marlen Sörensen. Seike müsse längst zu Hause sein. Sie sei vor einer Dreiviertelstunde losgefahren, sagte sie. Ich rief Freundinnen an. Ohne Erfolg. Ich ging raus, lief den Weg hinunter. Von weitem sah ich das Rad. Es lag am Rand der kleinen Kreuzung, ordentlich abgelegt. Von Seike keine Spur. Ich rief, sah über die Weiden. Nichts. Panik kam auf. Ich rannte zum Haus zurück. Mein Mann rief die Polizei an. Sie reagierte schnell, ebenso die Feuerwehr, die gerade eine Übung machte

Tagelang durchforsten Polizei, Bundesgrenzschutz und die Einwohner des Dorfes die Umgebung, suchen in Tümpeln, Kanälen und Scheunen, pumpen sogar den riesigen Gülle-Container der Sörensens leer. Alles vergeblich. 

Kein Anruf eines Entführers. Kein Hinweis auf einen Sittlichkeitstäter. Nur eine vage Beobachtung von Dorfbewohnern: Man habe zum Zeitpunkt von Seikes Verschwinden einen anthrazitfarbenen Mercedes gesehen. Das Fahrzeug wurde nie ermittelt. 

Es wurde kein Söckchen, kein Taschentuch, aber auch gar nichts gefunden, sagt die Mutter. Der Chef der Mordkommission stellt nach zehn Jahren bitter fest: Außer dem Fahrrad haben wir nichts. Nicht eine Spur. Jahrelang verglich Flensburgs Polizei immer wieder andere Vermissten- und Sittlichkeitsfälle mit Seikes Verschwinden, in der Hoffnung, einem Serientäter auf die Spur zu kommen. 

Wer ist der Täter? Sie wäre nie zu Fremden freiwillig ins Auto gestiegen, sagt Marlen Sörensen. Und mit Gewalt? Vieles spreche dagegen. Das säuberlich abgelegte Rad zum Beispiel. Vielleicht war es doch ein Bekannter, der sie mitgenommen und sich an ihr vergangen hat, rätselt sie. Nur, mir fällt keiner ein. 

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